nk eiland - neues kammerspiel


Referenzen

#w4 Kaspar

1994 Premiere der ersten Fassung - 2 Schauspieler aus unserem Team in Zusammenarbeit mit 18 geistig behinderten Schülern - 2004 - Neuinszenierung am Staatstheater Stuttgart - Impulse Festival NRW - Baden Württembergische Theatertage Ulm - UCLA Los Angeles - 20 Jahre später, 2022 - dasselbe Team - anknüpfend, weiterentwickelnd, erforschend, sich neu begegnend - vielleicht schreibt Peter Handke einen neuen Text, vielleicht erzählen wir von uns, vielleicht erzählen wir, wie es mit Kaspar hätte weitergehen können, wenn es so gekommen wäre, wie es hätte sein können.                                                                         



Reutlinger Generalanzeiger, 8. März 1999
Sprechfolterung im Klassenzimmer 

Tonne und Rossegger-Schule machen in der Galerie Planie aus Handkes „Kaspar“ eine Geschichte

Bei der Frankfurter Uraufführung 1968 (durch Claus Peymann) löste Peter Handkes „Kaspar“ einen Skandal aus, weil die Zuschauer ein Stück ohne Handlung als Zumutung empfanden. Handke sprach von „Zuhörstück“, von Schauspiel ohne Bilder. „Die Welt in den Worten selbst“ sollte gezeigt werden, denn Literatur bedeutet für ihn nicht Handlung sondern Sprache. Jetzt, 30 Jahre später, dominieren Bilder die Kommunikation. So erscheint es folgerichtig Kaspars „Sprechfolterung“, wie Handke selbst seine „65 Etüden“ bezeichnete, in Bilder umzumünzen. Daß dies ....theatralisch gewinnbringend sein kann bewies die Reutlinger Tonne nun mit ihrer Inszenierung des „Kaspar“, die am Samstag Premiere hatte.

Regisseur Alex Novak hatte die Idee, den dem Findelkind Kaspar Hauser nachempfundenen Menschen, der „durch Sprechen zum Sprechen“ gebracht wird, einzuschulen. Die „Einflüsterungen“ der anonymen Einsager werden ihm im Unterricht – Deutsch, Sport, Biologie, Religion – verabreicht. Seine Mitschüler sind 19 Kinder der Reutlinger Peter–Rossegger–Schule für geistig Behinderte.

In einem einzigartigen Gemeinschaftsprojekt von Theater und Schule wurden sie spielerisch auf ihre Auftritte auf der Bühne vorbereitet. .... Wie konzentriert und verantwortungsbewusst sie ihre Aufgaben meistern, war ein faszinierendes Erlebnis. Das Publikum gab sich willig im Zauber dieser liebenswürdigen Darsteller hin und brach am Schluss in begeisterten Applaus aus.

.... Bühnenbildner Jörg Kiefel hat im großen Saal ein altmodisches Klassenzimmer mit Wandtafel und Skelett installiert, das durch einen rechteckigen Lampen–Baldachin optisch zum Raum wird. Darin könnte sich Kaspars Abrichtung zum willigen Mitläufer in einer Massengesellschaft durchaus abspulen. Doch mag sich in Alex Novaks Inszenierung die intellektuelle Diskussion um die Macht der Sprache auch verlieren, das Theater triumphiert! Alex Novaks szenische Ideen für den Schulalltag sind bezwingend. Inklusive, dass der Rossegger-Rektor Dr. Manfred Breitinger als Pedell die Stühle rückt.

Sven Schöcker ist ein wunderbar zurückhaltender Kaspar, der neugierig in die Geheimnisse der Worte eintaucht und verwundert an sich beobacht, wie er zum artigen Duckmäuser wird, ohne je ein Rebell gewesen zu sein. Er ist geknickt, das er kommandiert wird, wobei freilich fälschlicherweise die Institution Schule am Pranger steht.

Den Lehrer spielt Rob Wyn Jones, indem er subtil und „very british“ den Berufsstand der Pädagogen karikiert. Er ist ein toller Schauspieler und Percussionist, der das Lehrerpult trommelnd zum Klingen bringen kann und die Schulkinder hinreißend bluesig mit dem Gershwin-Schlaflied „Summertime“ in den Schlummer singt. Dass er Kaspar prügelt, als der es wagt, selbstständig zu denken, lässt ihn vorzeitig altern. Gut so.

 


Reutlinger Nachrichten 8. März 1999
Die Sprechfolter

Premiere: Handkes Kaspar in der Planie 22

„Jeder Satz ist für die Katz“, heißt es am Ende. Für die behinderten Schüler der Peter-Rosegger Schule gilt dies sicher nicht. In dem Tonne-Projekt „Kaspar“, das am Samstag in der Galerie Planie 22 Premiere hatte, lernten sie mehr, als nur bühnenreif Sätze zu sagen.

„Ich möcht ein solcher werden, wie einmal ein andrer gewesen ist.“ Verstehen und verstanden werden, möchte Kaspar, dazugehören zu der Gruppe von Schülern, mit denen er den Schultag verbringt. Doch als er anfängt, die Sprache zu beherrschen, beginnt auch die Sprache ihn zu beherrschen. „Das Stück könnte auch Sprechfolterung heißen“, kommentiert Peter Handke im Vorwort. Alex Novaks Regie von Handkes „Kaspar“ beläßt es nun nicht dabei, die Manipulation durch die Sprache aufzuzeigen. Sondern die Inszenierung läßt auch hoffen, daß es mit dem Bewußtsein, manipuliert worden zu sein, auch möglich sein muß, sich von dieser Beherrschung zu befreien. Als Kaspar zum Schluß meint, „in die Wirklichkeit übergeführt“ zu sein, gibt er durchaus nicht das Bild eines willenlosen Opfers der „Sprech-Folterer“ ab.

Überraschend lebendig schafft es Novak, den abstrakten Text Handkes zu konkretisieren, was nicht zuletzt seinen jungen behinderten Schauspielern zu verdanken ist: Die Kinder werden nicht zu Statisten degradiert, mit und von ihnen lebt das ganze Stück.

Erst sie lassen den direkten Bezug zur Realität deutlich werden. Wie Kaspar sind sie jeden Tag dem ausgesetzt“, was ihnen von Lehrern und Erziehern vorgegeben wird. So kann die Inszenierung auch ein stückweit als Kritik an unserem heutigen Bildungssystem verstanden werden und verliert somit nicht ganz die politische Intention der Uraufführung von 1968.

Sven Schoecker überzeugte als Kaspar, der in eine bestehende Ordnung eingepaßt wird. Zugleich neugierig, anpassungswillig, apathisch und aggressiv wird dieser Kaspar zu einem Teil des Schulalltags, ohne daß er sich dagegen wehren kann. Meist hervorragend auch Schoeckers Mimik: Was Kaspar beim Sprechen der Worte empfindet, war direkt auf seinem Gesicht abzulesen. Leider gelang es ihm nicht ganz, deutlich zu machen, daß Kaspar die Naivität verliert, mit der er anfangs auf die Bühne stolperte. Das unschuldige Gesicht eines Schuljungen mochte am Ende einfach nicht mehr zu den Worten eines zwangsweise erwachsen gewordenen Kaspars passen.

Balanceakt
Einen Balanceakt zwischen brutalem Prügel-Lehrer und einfühlsamen Pädagogen hatte Rob Wyn Jones als Lehrer zu leisten. Auf eine Trommel einschlagend,: hämmert er Kaspar ein, daß dieser „nicht zum Vergnügen auf der Welt“ sei, um ihn dann wieder in der nächsten Szene mit „Summertime, and living is easy...“ in den Schlaf zu singen. Durch den Wechsel zwischen ernsthafter Eindringlichkeit und an Slapstick grenzender Komik drohte das Stück jedoch, manchmal ins Groteske abzugleiten.

Völlig unverkrampft spielten die behinderten Kinder Kaspars Mitschüler. Faszinierend, daß der Zuschauer nie den Eindruck hatte, die Kinder würden „nur“ ihre einstudierten Rollen in einer von Jörg Kiefel ausgestatteten Klassenzimmer-Kulisse spielen. Ein Theater, das man in dieser Echtheit selten zu sehen bekommt.



Reutlinger Nachrichten, 6. Mai 2000
„Kaspar“ goes LA – am Ende Standing Ovations

Das Reutlinger Theater zeigte seine Handke – Produktion in Los Angeles

Die Tonne in Kalifornien: sieben Tage lang gastierte das Reutlinger Theater mit Peter Handke’s „Kaspar“ in Los Angeles. Die Tonne zeigte ihr Theaterprojekt – mit 16 Schülern der Peter-Rossegger- Schule für geistig Behinderte Kinder – an der University of California Los Angeles.

Was heißt eigentlich „mir gefällt es in Los Angeles sehr gut“ auf Englisch? Wenn zukünftig an der Peter –Rossegger–Schule Englisch Unterricht angeboten wird (lieber noch „amerikanisch“), so kommt dieser Wunsch nicht von ungefähr: vom 10. bis 16. April war das Theaterprojekt „Kaspar“ in Los Angeles zu Gast.

Um Sprache, Sprechen, das Erlernen von Sprache geht es auch in „Kaspar“, Peter Handke’s Variante der Findlingsgeschichte des Kaspar Hauser. Tonn-Intendant Alex Novak hatte das Sprechstück in der Spielzeit 1998/99 mit zwei Schauspielern und ursprünglich 19 geistig behinderten Schülern der Rossegger Schule auf die Bühne gebracht.

Das couragierte Gemeinschafts Projekt wurde mit zahlreichen ausverkauften Vorstellungen in Reutlingen zum Erfolg. Einladungen zu Festivals im In- und Ausland folgten. Beim internationalen Festival „Grenzgänger“ in Trier wurde Michelle Haner von der University of California Los Angeles (UCLA) auf Kaspar aufmerksam.

Haner erwägte eine Einladung der Reutlinger „Kaspar“–Produktion nach Kalifornien. Nicht nur finanziell ein mutiger Gedanke. Denn verständlicherweise reichte das Budget der UCLA für die Gesamtfinanzierung eines Gastspiels dieser Größenordnung nicht aus. Doch die Tonne konnte den Mehrbedarf aufbringen: dank zahlreicher privater Spenden, Sponsorengelder, Freiflüge und Sonderzuschüsse des Landes Baden-Württemberg, des auswärtigen Amtes, des Goethe-Instituts, des Landes Wohlfahrtsverband, der Stadt Reutlingen und nicht zuletzt dank der Schirmherrin des Projektes, Kultusministerin Dr. Annette Schavan. Anfang März stand schließlich fest, das „Kaspar“ die Einladung der University of California Los Angeles (UCLA) annehmen konnte.

Traumhaft gelegen an der Westside Los Angeles, in der nähe von Santa Monica, Bell Air und Beverly Hills, gehört die Universität mit 35.000 Studierenden zu den großen und renommierten Unis der USA. Ihre Schauspiel Fakultät, die „School of Theater, Film and Television“ genießt Weltruf. Eine verlockende Adresse also für ein Theatergastspiel in Übersee.

Workshops
In Los Angeles wartete ein umfangreiches Programm auf das Tonne-Team: zwei Aufführungen von „Kaspar“, Stückeinführungen vor und Diskussionen nach den Vorstellungen, Schauspielworkshops, Kolloquien, Gesprächskreise und eine Einladung ans Goethe-Institut. Ziel der einwöchigen Gastspielreise war neben einer umfassenden Präsentation auch ein intensiver Erfahrungsaustausch mit der „School of Theater, Film and TV“. Alex Novak und Tonne-Mime Rob Wyn Jones vermittelten den dortigen Schauspielschülern in einem Masterclass-workshop Regieansatz und künstlerisches Konzept.

Zusammen mit dem größten städtischen Theater in Los Angeles, dem Mark Taper Forum, wurden in einem Kolloquium zu „Kaspar“ auch die wichtigsten Theorie-Aspekte des Projekts eingehend aufbereitet: die Arbeit mit behinderten Schauspielern, Projekte und Möglichkeiten für Behinderte Schauspieler in den USA, die Erfahrungen des Regisseurs Alex Novak bei den Probenarbeiten zu „Kaspar“, Handkes Werk und der historische Kaspar Hauser.

Höhepunkte der Theaterwoche in Los Angeles waren freilich die beiden „Kaspar“ – Vorstellungen am 13. und 15. April im Northwest – Campus Auditorium. 350 Plätze galt es hier zu füllen. Theater aus Deutschland, noch dazu das Stück eines in den USA nahezu unbekannten Autors, würde es im Umfeld von Hollywood, Musical und Glamour, so war anzunehmen, eher schwer haben. Denn, „who the fuck is Handke?“

Erfreulicherweise kam alles ganz anders: lange Warteschlangen vor dem Theater, und im Auditorium wurde es eng. Ein hochkonzentriertes und sensibles Publikum, das Gros Studenten der UCLA, registrierte jede Nuance des Spiels. Als die Kinder ihren „Makarena – Tanz“ tanzten, sprang der Funke über, der Saal tobte. Auch der Chef-Dramaturg des Mark Taper Forum  und eine Vertreterin des Goethe-Instituts Los Angeles lobten die ungewöhnliche Umsetzung des abstrakten Handke – Sprechstoff.

Bei der Abschlussvorstellung am Samstag bedankte sich das Publikum mit Standing Ovations bei den Akteuren. Es gibt bereits Gespräche über ein Folgegastspiel, dann aber in kleinerer Besetzung. Die Erfahrung, dass Theater jenseits konventioneller Ansätze so viel Lebendigkeit vermittelt und dies auch über kulturelle Grenzen hinweg, gehört zu den wertvollsten Erkenntnissen dieses Projektes und dieser Reise.







Südwestdeutsche Zeitung, 29.Mai 2000
Mit jedem Bühnenauftritt wächst die Selbstsicherheit

Geistig behinderte Schüler spielen in Reutlingen Peter Handkes “Kaspar“ - Beobachtungen von einer besonderen Probe

Wenn das Reutlinger Theater Die Tonne mit Schülern der Peter-Rosegger-Schule ein Stück probt, ist alles unspektakulär - aber doch ein wenig anders: Das Gros der Schauspieler ist geistig behindert.

Am Zelteingang sammeln sich unter stürmischer Begrüßung und herzlicher Umarmung die Kinder zwischen zehn und 19 Jahren zur Probe. Patrick mit seiner roten Kappe kommt angerannt und sagt keck: „Ich mache beim Sport mit und muss die anderen stoppen.“ Daniel ist etwas zurückhaltender. Bevor er erzählt, was er in dem Stück machen darf, überlegt er lange: „Jetzt fällt es mir wieder ein: lesen, aus einem Buch.“

Beim internationalen Festival „Kultur vom Rande“ stehen körperlich und geistig Behinderte im Rampenlicht. Das Theater Die Tonne und 19 geistig behinderte Schüler spielen Peter Handkes Stück „Kaspar“ seit März 1999. Aus einem Workshop in der Peter-Rosegger-Schule hat sich im Jahr zuvor die Zusammenarbeit mit dem Tonne-Theater entwickelt.

Die Dramaturgin Nicole Paulsen erinnert sich, wie perfekt der reale Schulalltag zum Stück passte: „Da wurden Buchstaben gebastelt, zusammengelegt und gedeutet. Wir fanden exakt die Situation vor, wie sie in Kaspar beschrieben wird.“ Denn das Stück rankt sich um Kaspar Hauser, jene berühmte Gestalt, die 1828 unter rätselhaften Umständen auftauchte. Viele Jahre war er ohne menschlichen Umgang und sollte sich plötzlich in einer fremden Welt zurechtfinden. Handke stellt in dem Werk die Frage, wie Kinder zum Sprechen bewegt werden.

Hinter dem Vorhang wird es unruhig, Anweisungen dringen in den Zuschauerraum: lauter, leiser, schneller, langsamer. Eine Lehrerin hält große Klappschilder hoch, um Hilfestellung für den Auftritt zu geben. Noch einmal wird die Gruppe nachgezählt: Wo ist Thilo, wo steckt Marc? Dann stehen die Schüler schon vor der Tafel und rechnen fünf plus eins ordentlich zusammen.

Mehr als 30 Mal hat die Theatergruppe den „Kaspar“ bereits gespielt, die Vorstellungen in Reutlingen, im Rheinland und in Österreich waren immer restlos ausverkauft. Im April 2000 wurde das Stück in Los Angeles gegeben. Roman erzählt, wie „furchtbar aufgeregt“ er bei der Premiere war, inzwischen freut er sich sichtlich auf den Auftritt. Voller Enthusiasmus wartet er darauf, dass „die Leute mitsingen und klatschen. In Amerika sind sie sogar aufgestanden“, erinnert er sich und wirft beide Arme in die Luft.

Auf der Tafel steht irgendwo zwischen wirrem Gekritzel der halbfertige Satz: „ Schweigen ist keine Ent....“  den Rest muss man dazudenken: Entschuldigung, Entwürdigung, Entmündigung? Darunter heißt es: „Eine Unterhaltung ist kein Verhör.“ Die Inszenierung zeigt an Kaspars erstem Schultag wie Menschen durch Sprache gebrochen werden. Monotone Übungen wirken wie Sprechfolter: „Du bist nicht zum Vergnügen auf der Welt.“ Floskeln werden wie Bomben benutzt: „Nur wer gesund ist, kann viel leisten“ oder „Niemand steht im Abseits“ - Sätze, die nachdenklich stimmen. Kinder, die sich besser über Gefühle als über Wörter definieren, verlieren sich irgendwo im Buchstabenmeer.

Der Schulleiter Manfred Breitinger ist sich des pädagogischen Werts des Theaterspielens bewusst: „Die Kinder können sich mit sich selbst auseinander setzen und vor allem ihr Selbstwertgefühl steigern.“ Und tatsächlich marschieren, tanzen und singen alle selbstsicher in der Arena, als wäre das selbstverständlich. Keine Aufführung gleicht der anderen, denn die Schüler dürfen deren Ablauf variieren. Nur wer mehrere Vorstellungen gesehen hat, weiß, dass Sabrina eigentlich hinter dem Vorhang verschwinden sollte, gerade aber auf der Trommel ihr Temperament beweist. Die Regie des Intendanten Alex Novak betont diese persönliche Note.

So richtig kann sich Jessica heute für keinen Stuhl entscheiden - sie ist mit zehn Jahren die Jüngste im Team. „Wo willst du eigentlich sitzen?“ fragt der Regisseur. Mit Samthandschuhen wird niemand angefasst, das wird immer wieder deutlich. Der Text thematisiert dagegen das Anderssein der Kinder, wenn es heißt: „Du selbst bist in Ordnung, wenn sich deine Geschichte von keiner anderen Geschichte unterscheidet.“ Im Lauf der Probe werden die Kinder zutraulich: Elif nimmt die Hand, und der stumme Haydar zwickt einem frech in die Hüfte und lächelt verschmitzt. Während Sven Schoecker als Kaspar seinen Text rezitiert, klopft ihm Patrick unvermittelt auf die Schulter und lacht laut über die Sprachübungen des Schauspielers, die selbst für einen Außenstehenden gekünstelt wirken. Die echten Künstler sind die Kinder - nicht, weil sie behindert sind und schauspielern können, sondern weil sie sich selber ohne Hemmungen darstellen. Wie sagt doch Kaspar? „ Ich will kein anderer mehr sein, als ich bin.“

Die Probe ist geschafft, den meisten knurrt der Magen. „Gehen wir was trinken?" fragt der Regisseur in die Runde und erntet Begeisterung. „Es gibt viele Sätze mit denen man sich verrückt stellen kann, mit denen man verrückt sein und verrückt bleiben darf“ heißt es im Text. Auf der Bühne spielen diese Sätze nicht die Hauptrolle.



14. June 2000, Los Angeles
To Whom It May Concern:The Theater Die Tonne production of Peter Handke`s Kaspar is one of those rare evenings in the theater that provides not just one revelation but a whole series of interconnected revelations, all flowing from the playwright`s text and resonating back and forth between the hearts and minds of these particular actors, this particular audience - a newly-constituted community collaborating to bring this play to life. This sort of thing doesn`t happen every time the curtain goes up, of course, but when it does, it is a transcendental experience for all concerned, a little miracle that stays vivid and alive in the memory, nurturing, sustaining.
These are surprising words to use, perhaps, about a play by Peter Handke. In Kaspar he has chronicled a relentless process of „humanizing“ that is dehumanizing; he has revealed, in a simultaneously playful and numbing way, how language, the very element that defines our „civilization“, is used to shape, control, limit, and diminish the human spirit. And yet there is another message, under Handke`s pitiless stripping away, under Beckett`s tragicomic despair. Beckett said all language is a stain on silence, but, as Art Spiegelman so brilliantly observed, he said it. In the very act of saying, of making a play, even a play that despairs, there is something profoundly hopeful and passionate and affirmative; and that hopefulness, passion, and affirmation, as surprising as they are essential, are very much on display in Alex Novak´s wonderful, funny, deeply moving Theater Die Tonne production of Kaspar.
Much credit to Novak for his inspired direction, and to the brilliant performances from Sven Schoecker (Kaspar) and Rob Wyn Jones (The Theacher); but special praise must also go to the dedicated, hard-working, and joyful students of the Peter Rosseger School who contribute an extraordinary dimension - and a radiance - to the performance. These children are developmentally disabled. I went to see them do this play that explores the ambiguities of „learning“ with considerable trepidation. Was this a gimmick, an avant-garde inspiration with more theatricality than meaning? What could the poor children bring to this play? What could they gain from it? Five minutes into the production, I understood its essential rightness, and I began to care deeply for the individual children who are not the least bit „poor“ or to be pitied or condescended to. I learned about Kaspar from this production (even Peter Handke must have made discoveries about his play, seeing this actors play it). More than that, however, I learned something new about words and learning; about acting and plays; about despair and hope; about responsibility and love. I urge you to see this Kaspar if you can.

Frank Dwyer, Associate Artist, Mark Taper Forum, Los Angeles
 


Stuttgarter Zeitung, 5. März 2002
Wenn man gar nicht spielt, die spielt man am besten

Peter Handkes frühes Stück „Kaspar“ im Stuttgarter Depot-Theater - Produktion mit behinderten Schülern

Wie bitte? Geistig Behinderte spielen bei einer Produktion des Staatstheaters eine tragende Rolle? Setzt hier jemand auf den Mitleidseffekt? Werden Behinderte hier in ihrer Behinderung ausgestellt? Wer im Depot-Theater die Aufführung von Peter Handkes frühem Stück „Kaspar“ gesehen hat, fühlt sich von allen Vorbehalten und Vorurteilen befreit. Er verlässt verwandelt das Theater.

Das Reutlinger Minitheater in der Tonne hatte 1998 auf der Suche nach einer Konzeption für den „Kaspar“ zarte Bande mit der Peter-Rosegger-Schule in Reutlingen, einer Schule für geistig Behinderte, geknüpft und eine viel beachtete Produktion zu Wege gebracht. Und nachdem der Stuttgarter Intendant Friedrich Schirmer ein Videoband dieser Produktion gesehen hatte, beschloss er, sie in abgewandelter Form zu übernehmen. Das Staatstheater ermöglichte eine Neuproduktion. Geblieben sind nun der Regisseur Alex Novak und die beiden Hauptdarsteller, doch die Schülerrollen sind in Stuttgart neu besetzt worden.

Das Kaspar-Hauser-Thema und die Behindertenproblematik sind benachbart. Handkes Titelfigur soll, wie das historische Vorbild des neunzehnten Jahrhunderts in Nürnberg, durch Sprache zu einem Menschen geformt werden. Der echte Kaspar, der ohne menschliche Kontakte und daher auch ohne Sprache in einem Verlies aufgewachsen war, soll angefangen haben zu zittern, wenn das Sprachtraining zu gewaltig und zu gewalttätig war. Geistig behinderte Kinder sind, im Gegensatz zu Kaspar Hauser, nicht stumm, haben aber eine eigene Sprache, die in der „normalen“ Weit nicht verstanden wird.

„Normale“ Menschen üben vor allem sprachlich eine Diktatur aus - vergleichbar der des Einsagers auf Handkes Kaspar. Für Kinder, ob behindert oder nicht, verkörpert sich die Diktatur der Sprache vor allem in der Person des Lehrers. Damit ist für die Inszenierung die Frage, ob die Einsager abstrakt bleiben oder konkret werden sollen, mit der sich die ersten Inszenierungen Ende der Sechziger Jahre herumplagten, auf selbstverständliche Weise gelöst. Ein Lehrer „quasselt“ die Kinder zu, oft sogar auf Englisch. Dem Darsteller des Lehrers, Rob Wyn Jones, geht die Sprache mühelos von den Lippen, der Klasse dagegen mutet er viel zu.

Zum Lehrer gehören natürlich Tafel, Kreide und Pult. Weitere Unterrichtsrequisiten sind ein Skelett sowie ein zerlegbares menschliches Modell, denn es geht schließlich um die Menschwerdung (Bühne von Jörg Kiefel). Kaspar in Gestalt von Sven Schocker ist zwar mit seiner Schultüte körperlich und sprachlich herausragend, bleibt aber immer ein Gruppenmitglied in dieser von Sprache traktierten Gemeinschaft.

Die Schülerschar: Wer schon einmal mit Jugendlichen auf der Theaterbühne gearbeitet hat, weiß, wie viel Überwindung und Arbeit dahinter steckt, bis sie auch nur einen Schritt wagen oder einen Satz von sich geben vor großem Publikum. Wie viel Liebe, Ausdaudauer und Hintergrundarbeit gehören erst dazu, um siebzehn behinderte Schüler zu solch einem unbefangenen Spiel zu bringen. Als Hausmeister getarnt leistet der Schulleiter Manfred Breitinger entscheidende Mithilfe. Was Behinderte gerade nicht können, nämlich sich verstellen, in eine Rolle schlüpfen, das entpuppt sich hier als Stärke, als unmittelbarer, authentischer Ausdruck.


Die Berufsschauspieler geben der Inszenierung den professionellen Zuschnitt: Gruppenaufritte wechseln in schöner Rhythmisierung mit Einzelauftritten und Duetten ab, wogende Wortkaskaden in grellem Licht mit sanften schummrigen Kuschelpassagen, nackte Sprache mit musikalischer Unterfütterung. Die artistischen Glanzlichter liefern natürlich die Profis. Mit unglaublicher Wortakrobatik verblüfft Sven Schoecker als Kaspar oder etwa Rob Wyn Jones mit seiner Körperpercussion als Lehrer am Pult, wobei mehr als bei allen Worten die Gewalt spürbar wird, die von diesem Möbel seit Einführung der Schulpflicht ausgeht.

So wird in jeder Beziehung gezeigt, was Theater vermag. Nicht zuletzt hat das einmalige Erlebnis, von der Erwachsenenwelt ernst genommen zu werden, bei den beteiligten Kindern einen Entwicklungsschub bewirkt. Zum Glück ist Friedrich Schirmer nicht zum Schreibtischmenschen degeneriert. sondern ist immer noch Theatermensch geblieben, mit empfindlichen Antennen, speziell für Randgruppen unserer Gesellschaft. Diese Antennen sollten auch die Theaterleute von der Bundeszentrale für politische Bildung ausfahren, wenn es um ihr Festival für freie Gruppen in Hamburg geht. Das Staatstheater hat diese Produktion nur ermöglicht, nicht geschaffen. Das Publikum dürfte dort genauso begeistert reagieren wie in Stuttgart.

 

Stuttgarter Nachrichten 5. März 2002
Vom Recht auf das eigene, andere Sein

Peter Handkes „Kaspar“ im Theater im Depot: Botschaften eines außergewöhnlichen Schauspiel-Projekts  

Stuttgart - Rechts ein Skelett, links ein Pult, dazwischen eine Schiefertafel: Ein Klassenzimmer, auf die Bühne gebaut von Jörg Kiefel, wartet auf den Unterricht. Und da hockt er auch schon, der Lehrer: brauner Anzug, Pädagogen-Schnauzer, Fahrradklammern an den Hosenbeinen - eine Mischung aus jovialem Schulreformer, oberstudienrätlicher Respektsperson und Groucho Marx. An der Tafel haben derweil die lieben Mitschüler einem neuen Kameraden die obligatorische Spott-Dosis mit auf den Schulweg gegeben: „Kaspar ist doof“, steht dort geschrieben. Keine freundliche Begrüßung für einen, der gerade erst eingeschult wird: für einen Nachzügler, der freundlich die Schultüte präsentiert und vom Lehrer erst mal ins Gebet genommen wird. Schrapnellartig spult er seinen auswendig gelernten Text herunter. ebenso schnell rattert der Lehrer englische Sätze: Fremde Sprachen prasseln ineinander, verstanden wird - nichts.

So beginnt im Theater im Depot Peter Handkes Stück „Kaspar". Die Produktion des Reutlinger Theaters „Die Tonne“. die jetzt an der Spielstätte des Stuttgarter Staatstheaters wieder aufgenommen wird, ist ein außergewöhnliches Theater-Projekt. In Kooperation mit der Peter-Rosegger-Schule für geistig behinderte Kinder entfaltet Handkes schwierig-abstraktes Sprechstück über einen Sprachlosen, der zum Reden gebracht wird, eine sehr konkrete, geradezu elementare Bedeutung.

Die Kaspar-Doubles, die gemäß Handkes Text auftreten, sind allesamt mit Schülern der Rosegger-Schule besetzt. Für sie, die geistig behinderten Kinder, ist die Kaspar-Situation - also die Fremdheit der Sprache - nicht nur Rollenspiel, sondern existenzielle Erfahrung. “ Dadurch gewinnt die Darstellung eine ganz andere, viel intensivere und zugleich spontanere Qualität als in „normalen“ Aufführungen. Die Faszination guten Improvisationstheaters, also der Charme des Unvorhersehbaren, teilt sich hier als Blitzlicht aus dem wirklichen Leben mit. Gerade deshalb ist Alex Novaks „Kaspar“-Inszenierung mehr als nur ein wohlmeinendes Sozial-Projekt, sondern auch ein wunderbarer, sozusagen live-haftiger Theaterspaß, und zwar nicht nur fürs Publikum, sondern ganz offensichtlich auch für dıe Mitwirkenden.

Umgekehrt erweist Handkes so modellhaft konstruiertes Wittgenstein-Exerzitium seine Tauglichkeit als griffige, triftige, ja komödiantische Spielvorlage. Erstaunlich genau folgt Novaks Regie den Phasen des Texts, angewandt freilich auf den Realismus einer Unterrichtssituation. Doch so weit entfernt vom originalen Sprachdressur-Drama ist das nicht: Handkes Kaspar - der mysteriöse Findling Kaspar Hauser, stilisiert und abstrahiert zum Modelltypus des Spracherwerbs - wird von Einsagern mit enervierenden Sätzen gepeinigt, verwirrt, abgerichtet und in die Kluft zwischen Dingen und Worten gejagt. Ihn schmerzen die Dinge, bis er sie benennen kann, und ihn schmerzen die Worte, bis er sie auf Gegenstände beziehen kann. Sven Schoecker spielt das als schweißtreibende Arbeit am Begriff, als bisweilen körperlich ausgetobtes Rotieren im Hamsterrad der ratternden Phrasendreschmaschine: ein wahrhaft furioser Schauspieler-Einsatz.

Damit zeigt die Sprache ihr Doppelgesicht: Sie ist Instrument des Zwangs (Handke redet gar von „Sprachfolter“) und Medium der Mitteilung. Sie ist Entfremdung und Ich-Findung zugleich. „Ich bin, der ich bin“, wird Kaspar in der Mitte des Stücks sagen: Erfolg eines Lernprozesses - und seiner Dompteure. Deren Part, also den von Handkes Einsagern, spielt in Novaks Inszenierung der Lehrer. Und um die Fremdheit aller Sprache zu unterstreichen, redet der Darsteller Rob Wyn Jones ausschließlich Englisch. Mit viel körperlichem Einsatz und viel körpersprachlicher Aktion der jungen Darsteller spannt sich der Bogen dieser Inszenierung durch einen Tag im Internat: Sportunterricht und Sprechchöre, Schlafenszeit und Singstunde (vom schwäbischen Volkslied bis zum türkischen Pop) entwickeln eine Darstellungsweise, die auf wahrlich erhellende Weise Sprache und Körper in eın neues oder zumindest neu zu sehendes Verhältnis rückt. Und so ist diese bemerkenswerte Theaterproduktion auch ein Plädoyer für das Anderssein, für eine Artikulation jenseits des Wort- und Sprach-Zwangs, den Handkes Stück so detailliert durchdekliniert.

„Du bist in Ordnung, wenn sich deine Geschichte von keiner anderen Geschichte mehr unterscheidet”, heißt es im Text. Gegen solch totalitäre Ordnung protestiert Novaks Inszenierung, die ihr Ensemble in Schuluniformen steckt, um in vielfältiger Ironie die Uniformierung zu unterlaufen. Hier haben die Akteure eine Geschichte, die sie von anderen Geschichten unterscheidet. Sie brauchen keinen Mitleidsblick, sondern ein Recht auf ihr eigenes, anderes Sein. Wie wir alle.
 
︎ #w4 Kaspar


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